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  • Natur und Umwelt

«Vögel sind ein Spiegelbild der Umwelt»

22.03.2024 – Susanne Wenger

Die Vogelwarte Sempach im Kanton Luzern feiert ihr 100-jähriges Bestehen. Als gemeinnützige Institution ist sie heute eine angesehene Fachstelle in der Schweiz und erfreut sich grosser Sympathie in der Bevölkerung. Doch sie warnt: Die Vielfalt der heimischen Vogelwelt ist bedroht.

Livio Rey, Biologe und Öffentlichkeitsarbeit bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Foto ZVG

Diesen Winter war abends über dem bernischen Langenthal ein Schauspiel am Himmel zu beobachten: Hunderttausende Bergfinken liessen sich in den Tannen nieder, um dort zu übernachten. Bergfinken sind zwar jedes Jahr als Wintergäste aus Skandinavien in der Schweiz anzutreffen, erklärt Livio Rey, Biologe an der Vogelwarte Sempach: «Ein Masseneinflug findet jedoch nur alle paar Jahre unter bestimmten Bedingungen statt.» Es braucht genug Buchennüsschen als Nahrung und darf keinen Schnee haben, zugleich müssen weiter nördlich die Bedingungen schlechter sein. Dann weichen die Finken nach Süden aus.

Das Fachwissen der Vogelwarte Sempach ist immer wieder gefragt, wenn es um die Vogelwelt geht. Die Vogelwarte, die im April 1924 von der Schweizerischen Gesellschaft für Vogelkunde und Vogelschutz gegründet wurde, ist hierzulande längst eine Institution. Als Stiftung mit knapp 160 Angestellten berät sie Behörden und Berufsgruppen, gibt Auskunft an Ratsuchende aus der Bevölkerung und informiert über vogelbezogene Themen. Die Tatsache, dass sie zu drei Vierteln durch Spenden und Legate finanziert wird, zeigt das Vertrauen und die Sympathie, die ihr entgegengebracht werden. Von der öffentlichen Hand wird die Vogelwarte nicht unterstützt, sie leistet aber für Bund und Kantone Auftragsarbeiten.

Frühe Naturschützer

Die Gründerinnen und Gründer, darunter der erste Leiter der Vogelwarte, Alfred Schifferli aus Sempach, ein Buchhalter und Ornithologe, wollten die damals aufstrebende Vogelforschung unterstützen. Schifferli und seine Helfer beringten zahlreiche Vögel, um zur Erforschung des Vogelzugs beizutragen. Die Vogelwarte wurde zur zentralen Meldestelle für Ringfunde und stellte Präparate und Eier für Studien zur Verfügung. Ihre Gründung steht auch im Zusammenhang mit frühen Naturschutzbewegungen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in der Schweiz. Von Anfang an sollte das wachsende Wissen über Vögel ihrem Schutz dienen.

«Um Vögel zu schützen und ihre Vielfalt für kommende Generationen zu bewahren, müssen wir sie verstehen», sagt Livio Rey am Hauptsitz der Vogelwarte. Dieser liegt am Sempachersee, etwas ausserhalb der Kleinstadt, und umfasst auch eine Pflegestation für verletzte Vögel sowie ein Besuchszentrum. Wer an diesem Wintertag den Lehmbau besucht und im richtigen Moment ins Freie schaut, erkennt einen bunten Eisvogel. Das Verstehen, Schützen und Bewahren ist bis heute der Grundsatz der Vogelwarte und laut dem Biologen dringlicher denn je.

Eine der längsten Roten Listen

Denn obwohl die Vogelwelt viele Menschen durch ihren Gesang, ihre Sichtbarkeit im Alltag und ihre Fähigkeit zu fliegen fasziniert, ist den meisten nicht bewusst, wie schlecht es ihr insgesamt geht. Aktuell sind 40 Prozent der rund 200 Schweizer Brutvogelarten bedroht. Die Rote Liste der gefährdeten Vogelarten ist laut Rey eine der längsten in Europa. Und die Situation hat sich in den letzten zehn Jahren nicht verbessert: Die Zahl der «potenziell gefährdeten» Vögel auf einer Art Vorwarnliste ist gestiegen. «Entgegen der landläufigen Meinung ist die Schweiz keine Musterschülerin im Vogelschutz», betont der Biologe.

Allerdings differenziert er: Den Vögeln, die im Wald leben, geht es dank vergleichsweise strengem Waldschutz in der Schweiz recht gut. Auch etwa bei den Reiher- und Greifvogelarten gibt es positive Entwicklungen. Seitdem sie nicht mehr gejagt werden dürfen, konnten sich die Bestände erholen. Beispiele dafür sind der Steinadler, der wieder angesiedelte Bartgeier und der Rotmilan. Letzterer stand kurz vor dem Aussterben, sagt Rey, «heute brüten zehn Prozent des Weltbestandes in der Schweiz.»

Probleme im Kulturland

Grosse Probleme haben viele Vogelarten im Kulturland, wo ihnen die intensivierte Landwirtschaft zu schaffen macht. Häufige Grasschnitte zerstören ihre Bruten. Hoher Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden reduziert ihre Nahrungsgrundlage, die Insekten. Ausserdem fehlen ihnen vielerorts Kleinstrukturen wie Hecken oder Steinhaufen. Das hat dazu geführt, dass nicht mehr alle Vögel da sind, wie es in einem bekannten Kinderlied heisst. Arten, die früher im Mittelland häufig vorkamen, sind ausgestorben, vom Rebhuhn bis zum Ortolan, einer Ammerart. Nur noch selten ist der jubilierende Gesang der Feldlerche zu hören.

Foto ZVG

Auch Vogelarten in Feuchtgebieten, also an Gewässern oder Mooren, leiden. Ihnen setzen unter anderem Freizeitaktivitäten der Menschen zu. «Vögel sind ein Spiegelbild der Umwelt», fasst der Experte zusammen, «sie zeigen sehr gut, wie wir mit der Umwelt umgehen.» Das Wissen über die Entwicklung basiert auch auf den umfangreichen Daten der Vogelwarte. Das Monitoring, also das Zählen von Beständen, ist seit Jahrzehnten einer ihrer Schwerpunkte. Über 2000 Freiwillige im ganzen Land unterstützen sie dabei, von der pensionierten Naturwissenschaftlerin bis zum Gleisbauer. Die Erforschung des Vogelzugs ist ebenfalls ein zentrales Thema der Vogelwarte geblieben. Die Technik hat sich jedoch verändert. Heute werden Zugvögel nicht mehr nur mit Ringen ausgerüstet, sondern auch mit federleichten Datenspeichern, sogenannten Geolokatoren, die den Vögeln wie ein Rucksack am Körper angezogen werden. Sie liefern «beeindruckende Erkenntnisse», sagt Rey. Zum Beispiel bleibt der Alpensegler 200 Tage ununterbrochen in der Luft. Der kleine Drosselrohrsänger erreicht auf dem Zug eine Höhe von bis zu 6000 Metern.

Mit Landwirtschaft zusammen

Obwohl sich die Vogelwarte seit etwa fünfzig Jahren verstärkt mit den Lebensbedingungen der Vögel beschäftigt, hält sie sich bei politischen Forderungen stets zurück. Sie möchte fachliche Grundlagen liefern, erklärt der Biologe. Eine Ausnahme bildet die Biodiversitätsinitiative, über die 2024 abgestimmt wird. Die Vogelwarte spricht sich für das Volksbegehren aus, das mehr Flächen und Mittel für die Artenvielfalt fordert. Um die Lebensräume der Vögel aufzuwerten, engagiert sich die Vogelwarte aber vor allem direkt vor Ort. Dabei arbeitet sie mit Bäuerinnen und Bauern zusammen, die naturnah produzieren.

Vögeln und Hasen gefällts

Der Wanderfalke – hier im temporeichen Sturzflug – ist ein Beispiel für gelungenen Artenschutz. In den 1960er-Jahren stand er wegen eines Insektizids vor dem Aussterben. Eine 1972 beschlossene Massnahme rettete aber sein Überleben. Foto Keystone

So hat sie in der Genfer Champagne und im Schaffhauser Klettgau geholfen, preisgekrönte ökologische Ausgleichsflächen in landwirtschaftlichen Gebieten zu schaffen. Dort nehmen jetzt nicht nur die Bestände der Feldlerche wieder zu, auch der Feldhase ist wieder da, sagt Rey. Der 33-jährige Berner arbeitet seit acht Jahren bei der Vogelwarte. Sein Favorit ist der attraktive Wanderfalke, Tempo-Rekordhalter in der Tierwelt: Im Sturzflug erreicht er 200 Stundenkilometer. Er kommt fast überall auf der Welt vor: «Das verbindet.»

Und er ist ein Beispiel für erfolgreichen Artenschutz. In den 1960er-Jahren stand der Wanderfalke aufgrund des grossflächigen Einsatzes des Insektizids DDT kurz vor dem Aussterben. Eine internationale Umweltbewegung kämpfte gegen das Mittel und erreichte Verbote, 1972 auch in der Schweiz. Seitdem geht es mit dem Wanderfalken wieder aufwärts. «Er ist der lebende Beweis, was man mit Engagement erreichen kann», sagt Rey.

www.vogelwarte.ch

www.ornitho.ch

Kommentare

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Kommentare :

  • user
    Patricia Evrard, Garches 92, France 07.04.2024 um 15:38

    Bravo pour tous ces combats difficiles à gagner avec les cultures et consommations intensives. J'adhère complètement à ce que la faune et la flore sont les premières touchées, c'est en revenant vers plus de respect de notre environnement qu'il nous protégera à son tour. Il serait nécessaire que dans chaque pays, on instaure ce respect par l'ouverture des écoles à toutes ces merveilleuses associations qui agissent avec courage et ténacité.......

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