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  • Literaturserie

Jürg Federspiel | New York als Stadt der Liebe und des Todes

28.09.2016 – Charles Linsmayer

Bücher wie «Museum des Hasses» und «Die Ballade von der Typhoid Mary» zeigen, wie konsequent Jürg Federspiel New York zu seiner zweiten Heimat machte.

Man könne ihn aus den vielen anderen heraushören, urteilte Werner Weber, als Jürg Federspiel, geboren am 28. Juni 1931 in Kempthtal, sich 1961 mit den Erzählungen «Orangen und Tode» neben Debütanten wie Paul Nizon und Peter Bichsel stellte. Heraushören konnte man aus seinen Büchern auch später nicht nur brillant recherchierte Sachverhalte, sondern auch die Affinität zu den Themen Liebe und Tod. Der Erstling, der mit der Beschreibung eines Mannes begann, der sich mit dem Karabiner erschiesst, fand im «Museum des Hasses» von 1969, diesem unbeschönigten Bericht über ein New York, in dem der junge Schweizer zunächst nichts als Rasierklingen sieht und das ihn mit Visionen von Tod und Sexualität überfällt, thematisch seine Fortsetzung.

Federspiel hatte in Paris und in Berlin gelebt, aber als er 1967 nach New York kam, packte ihn «eine totale Euphorie». Ohne mit der Schweiz je zu brechen, verbrachte er bis zuletzt einen Teil des Jahres in dieser Stadt, die er nicht nur im «Museum des Hasses», sondern auch in der «Ballade von der Typhoid Mary», in «Die beste Stadt für Blinde», «Wahn und Müll» sowie «Stimmen in der Subway» literarisch evozierte, ohne von seinen zentralen Themen Liebe und Tod wegzukommen.

«Typhoid Mary» wurde sein berühmtestes Buch, und da konzentrieren sich die Themen ganz auf die erfundene Bündner Köchin Maria Caduff, die wie die historisch nachweisbare Mary Mallon (1869–1938) als Todesengel durch New York zieht und den Typhus verbreitet, ohne selbst daran zu sterben. Abgesehen davon, dass es ungewollt das mit der Sexualität Verschwisterte von Aids vorwegnahm, lieferte das Buch auch das Stichwort für eine Tendenz, die längst nicht vom Tisch ist. Dr. Rageet diagnostiziert an Mary «eine Gleichgültigkeit, die uns zuweilen anfällt und die nun als letzte, wahrscheinlich endgültige Seelenpest über uns hereinbricht. Ein Gespenst geht um, und das Gespenst heisst Hoffnungslosigkeit.»

Auch «Geografie der Lust» (1989), Federspiels sinnlichstes Buch, das von den spektakulären Folgen der Tätowierung handelt, die der Mailänder Lebemann Robusti auf dem Po der schönen Laura anbringen lässt, enthält eine zukunftweisende Erkenntnis. Da nämlich, wo am Himmel die Inschrift erscheint: «Das Zeitalter der Scham ist endgültig vorbei. Gott hat uns verziehen. Unsere Haut ist unsere Bekleidung. Sie gehört uns!»

Der Tod war für Federspiel kein literarisches Motiv, sondern eine existenzielle Herausforderung. Schon als er 1949 in Davos zusehen musste, wie sein tuberkulosekranker Vater den Sauerstoffhahn zudrehte, erkannte er: «Man kann den Toten nicht widersprechen, man muss sie in den Befestigungsanlagen aufsuchen, die wir für sie erfunden haben.» 1959 war er selbst an der Reihe und musste sich die halbe Lunge entfernen lassen, um – nicht ohne Handicap – weiterleben zu können. 1997 aber, als er das Davos seiner Jugend zum Schauplatz eines Romans machen wollte, liessen ihn Polyneuropathie und Parkinson kapitulieren. Auch die Liebe blieb Sehnsucht statt Erfüllung. Letztere fand er weder mit der zierlichen Antifeministin Esther Vilar («Der dressierte Mann»), noch in einer späten Liaison, mit der er sich in ein Thurgauer Dorf zurückzog. Zoë Jenny wurde Zeugin seines letzten New-York-Aufenthalts. In «Spätestens morgen» (2013) berichtete sie von zärtlichen Anwandlungen des schwer melancholisch Gewordenen auf einer New Yorker Parkbank im Herbst 2006. «Um vier Uhr morgens ist die Zeit der Exekutionen», erklärte er der jungen Kollegin. Und genau um diese Stunde muss es gewesen sein, dass er am 12. Januar 2007 mitten in Basel unbemerkt im Rhein den Tod suchte.

Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich.

«Es war Nacht, ich sah aus dem Fenster des vierzehnten Stockwerks. Der Anblick New Yorks mit seinen Zehntausenden von Lichtern ist wahrhaft gewaltig und schön. Ich fragte mich, ob nicht jedes Licht für den Wunsch eines Menschen stehe, König für wenigstens eine Nacht zu sein, in der Dunkelheit millionenfacher Enttäuschung.»

Aus: «Manhattan und ein Boxer» in «American Dreams»

Zürich, 1984

Bibliografie: Jürg Federspiels Bücher sind auf Deutsch bei Suhrkamp erhältlich.
 

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