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  • Gesellschaft

Mit dem «Davoser» gehts bergauf

22.01.2018 – Marc Lettau

Ursprünglich waren die kleinen Holzschlitten für Warentransporte gedacht. Doch 1888 lancierte ein Schreiner den «Davoser Sportschlitten». Seither ist das museale Vehikel aus dem schweizerischen Winteralltag nicht mehr wegzudenken. Und Schreiner wie Paul Burri halten seine Tradition am Leben.

In der kleinen Schreinerei von Paul Burri im bernischen Lohnstorf wird es auf Anfang Winter jeweils eng. Dann nämlich bestimmt ein Thema alles: der Schlitten. In der einen Ecke liegen zugesägte hölzerne Teile parat. In der anderen Ecke stapeln sich fertige Schlitten bis fast zur Decke. Und draussen überzuckert Schnee das Strässchen, an dem Burri arbeitet und lebt. Es ist dasselbe Strässchen, das Burri in seiner Kindheit zusammen mit seinen Brüdern für rasante Schlittenfahrten nutzte. Zwar streute der Strassendienst der Gemeinde der Sicherheit wegen damals Kies auf den festgefahrenen Schnee. Aber die Burri-Buben schoben jeweils die bremsenden Steinchen mit ihrem selbstgebauten Pflug aus der Fahrbahn – und ab ging die Post. Jetzt, gut ein halbes Jahrhundert später, ist Paul Burri der Schlittenmacher der Gegend.

Nicht nur Burri hat Kindheitserinnerungen ans Schlitteln: Der Schlitten ist das Objekt, das praktisch jede schweizerische Kindheit mitprägt. Kaum schneits, rutschen oder purzeln die Jüngsten mit dem hölzernen Vehikel den erstbesten Hügel hinunter, begleitet von Eltern oder Grosseltern, die früher das Gleiche taten. Und oft ist der Schlitten ein «Davoser». Dieser Archetyp des Schweizer Holzschlittens veränderte sich über all die Generationen nicht.

Zwingend aus Eschenholz

Die Dauerpräsenz dieses Schlittens ist Burri und einem Dutzend weiterer Betriebe im Lande zu verdanken. Sie führen das Schlittenmacherhandwerk weiter und wissen, was den guten Schlitten ausmacht: Er muss zwingend aus Eschenholz gefertigt sein. Dieses Holz ist hart, zäh, langfaserig und elastisch zugleich. Somit lassen sich die Kufen des Schlittens gut biegen. Und die Sitzlatten federn, ohne zu brechen.

Burri ist Schreiner. Aber jeder Schlittenmacher ist auch ein wenig Koch. Die hochgebogenen Kufen des Schlittens entstehen nämlich gewissermassen im Kochtopf. Zumindest tönts bei Burri wie in einer Küche: «Die für die Kufen bestimmten Holzteile werden im Nassdampf bei 150 Grad Celsius eine Stunde lang gekocht.» Anschliessend werden die Teile gebogen und fixiert. Sind sie abgekühlt und wieder trocken, bleibt die Biegung bestehen. Allerdings ist kein Holzstück genau gleich wie das nächste. Somit wird jede Biegung – und jeder Schlitten – leicht anders.

Originelle regionale Varianten

Der gradlinige «Davoser» gilt als das Original unter den Holzschlitten. Doch daneben gibts eine ganze Reihe origineller regionaler Varianten, denn viele Berggegenden brachten im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre eigenen, typischen Schlitten hervor. Nebst dem Davoser ist etwa der Grindelwalder Schlitten immer noch weit verbreitet. Begriffe sind auch der Bergüner, Goldiwiler oder der von der Alp Grön im Justistal stammende Grönländer.

Burri liefert Jahr für Jahr den Beweis, dass sich in der Welt des traditionellen Schlittens nichts ändert. Oder doch? Was ist mit all den rutschenden Untersätzen aus Plastik oder den hochmodernen, lenkbaren und schnellen Sportschlitten, den Rodeln? «Das Ursprüngliche hält sich», sagt Burri. Er kenne die modernen Trends und baue selber auch ein «sportlicheres Modell». Doch wirkliche Freude bereite ihm das Bewährte. Eine der offensichtlichen Veränderungen aber hat er akzeptiert. Anfänglich war nämlich des Schlittens Hauptzweck, kleine Lasten durchs verschneite Dorf zu transportieren. Heute ist er ein Freizeitgerät.

Die Modernisten der Schlittel- szene schütteln den Kopf angesichts der Tatsache, in wie hoher Stückzahl der einfache «Davoser» und seine Artgenossen immer noch gezimmert werden. Für sie sind Schlittler auf den eher schwer zu lenkenden «Davosern» die Ewiggestrigen. Und eines stimmt sicher: Wer auf einem klassischen Holzschlitten unterwegs ist, gerät kaum in den Geschwindigkeitsrausch. Aber Glücksgefühl vermag die Fahrt durchs winterliche Weiss und die Schneegischt im Gesicht sehr wohl zu vermitteln. Für Schlittenbauer Burri ist es die Kraft dieser Tradition, die zum Dauererfolg beiträgt. Zudem wüchsen die Kinder mit simplen Schlitten und nicht mit ausgefeilten Rennmaschinen auf. Der Nachteil des «Davosers» sei zugleich sein Vorteil: «Weil er nicht so schnell ist, ist er auch nicht so gefährlich.»

120 präparierte Schlittelbahnen

In der Schweiz sind im Winter annähernd zwei Millionen Personen auf Schlittelbahnen unterwegs, also auf jenen über 120 präparierten Strecken, wo kilometerlange Abfahrten möglich sind. Die Zahl dieser kommerziellen Angebote nimmt zu. Gleichzeitig werden die Superlative immer beachtlicher. Die mit 15 Kilometern Länge weltweit längste Schlittelbahn führt vor dem Panorama von Eiger, Mönch und Jungfrau vom Faulhorn über die Bussalp bis nach Grindelwald. Damit ist auch gesagt: Kommerzielle Anbieter haben die anachronistisch anmutenden Schlittler längst entdeckt und umgarnt. Doch auch abseits der Bahnen – auf schier jeder beschneiten Fläche mit ausreichender Neigung – boomt das Schlitteln.

Spürt Paul Burri diesen Boom? Er fertigt Jahr für Jahr 200 bis 300 Schlitten. Diesen Winter sind es über 1000. In seiner Bescheidenheit nennt er es aber «Zufall», weil eine einzelne Grossbestellung die Zahl nach oben getrieben habe. Doch auch die anderen Schlittenbauer im Lande klagen nicht. Nebst den «Traditionalisten» wie Burri gibts Unternehmer, die mit exklusiven, messingbeschlagenen Kleinserien ins Luxussortiment vorstossen. Schliesslich gehts auch mit Davoser Schlitten «made in Davos» wieder bergauf. Dort war 1954 die Schlittenproduktion eingestellt worden. Mit Paul Ardüser ist aber nun wieder ein Aroser ins Geschäft eingestiegen. Und der grösste Produzent in der Schweiz, die 3R AG in Sulgen, setzt pro Saison bis zu 5000 Schlitten aller Art ab. An die Verdrängung des «Davosers» glaubt 3R-Geschäftsführer Erwin Dreier nicht: «Schliesslich ist er ein Schweizer Kulturgut.»

Zurück zu Paul Burri. Er arbeitet mit dem Stolz des Handwerkers, der weiss, dass er einen Schlitten «ganz und gar selber machen kann». Er sägt die gebogenen und inzwischen wieder trockenen Holzteile sorgfältig in zwei Hälften und erhält so zwei identisch gebogene Kufen. Er wählt besonders schönes Holz für die Schlittenfüsschen zwischen Kufen und Sitzfläche. Er längt die Latten mit präzisem Augenmass ab. Er biegt mit sicherer Hand Stahlschienen zurecht und schraubt diese auf die hölzernen Kufen. Schlitten um Schlitten entsteht so. Der Schlittenberg im kleinen Betrieb wächst weiter. Und vor diesem Berg sagt Burri: «Den Schlitten wird es ewig geben.»

Der Schlitten, dieses etwas museale Transportgefährt, färbt auch auf seinen Macher ab. Burri mags unmodern. Bietet er sein Qualitätsprodukt im Internet an? Fehlanzeige. Kann man bei ihm einen Schlitten per Mail ordern? Nein, kann man nicht. Man wisse ja, wo er sei: «Man findet mich in Lohnstorf.» Also klopft man besser an die Tür der kleinen Schreinerei an jenem kleinen Strässchen, auf dem Burri in Kindstagen talwärts sauste.

Ein Schweizer Klassiker 

Der 80 bis 130 Zentimeter lange Holzschlitten mit dem eingebrannten Schriftzug «Davos» ist ein Schweizer Klassiker. Sein Name geht aufs erste, historische Schlittelrennen von 1883 in Davos zurück, das auch zur Gründung des britisch dominierten «Davos Toboggan Club» führte. Davoser Wagner stellten zuvor erste Schlitten für Touristen her. 1888 präsentierte Skipionier Tobias Branger seinen «Davoser Sportschlitten» und schuf damit ein bis heute gültiges Urmodell des «Davosers».

 

Kommentare

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Kommentare :

  • user
    Erwin F.Siegler 23.01.2018 um 02:30
    Ich bin jetzt 82 Jahre alt - mit 2 Jahren sass ich auf einen
    Davoser ,der Schlitten war der Nummer 1.
    Übersetzung anzeigen
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