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Patrick Deville | Entdecker und Universalgenie

28.07.2014 – Beat Mazenauer

Der Prophet gilt nichts im eigenen Land, sagt der Volksmund. Im Falle von Alexandre Yersin (1863–1943) ist dies sicher richtig. Im waadtländischen Morges geboren, verbrachte Yersin allerdings denn auch die meiste Zeit seines Lebens in Paris und danach in Südostasien. In seinem Roman «Pest & Cholera» ruft der französische Schriftsteller Patrick Deville diesen universellen Geist verdienterweise neu in Erinnerung.

Yersin war ein Pionier auf verschiedenen Gebieten. Das Pestbakterium «Yersinia pestis» trägt noch heute seinen Namen. Er hat es im Wettstreit mit anderen Forschern – eher aus Zufall – 1894 in Hongkong für Frankreich und das Institut von Louis Pasteur entdeckt. Doch Yersin selbst schlug daraus kaum Kapital. Während seine Institutskollegen nach und nach die Nobelpreise zuerkannt erhielten, ging Yersin längst andere Wege. Er verliess die Pariser Bühne, um im damals französischen Vietnam eine neue Heimat zu finden. Im Fischerdorf Nha Trang fand er sein persönliches Paradies, in dem er seiner enzyklopädischen Neugier freien Lauf lassen konnte. Hier im Dschungel baute er ein kleines Universum auf. Der Bakteriologe Yersin betätigte sich auch als Landvermesser, Geograf, Meteorologe, Landwirt, Ingenieur, Erfinder und Architekt. Ungeduldig und schnell gelangweilt war er stets offen für das Neueste. So gehörte er zu den begeisterten Autopionieren und war der Erste, der mit einem Automobil durch Hanoi fuhr. Zu Reichtum kam er durch die Produktion von Kautschuk und Chinin. 

Diesen Erfinderreichtum erkundet Patrick Deville in seinem Roman, für den er 2012 den Prix Fémina erhalten hat. Er nähert sich seinem Helden in einer Art zeitlichen Zangenbewegung mit akribischer Genauigkeit und grosser Anschaulichkeit. Den Rahmen bilden die letzten Lebensjahre Yersins. 1940 weilte er, kurz vor dem Einmarsch der Nazis, ein letztes Mal in Paris, bevor er Europa ganz den Rücken kehrte. Er hatte neue Pläne in Nha Trang: Er wollte sich mit Griechisch und Latein vertraut machen. In Gestalt eines «Gespenstes aus der Zukunft» begleitet Deville seinen Helden durch dessen Leben und ruft die Erinnerung an seine Stationen wach. Was er dabei zu Tage fördert, ist die geradezu gigantische Mikrogeschichte aus der Optik eines Menschen, der sich für alles, nur nicht für Politik interessierte, der trotz kolonialem Pioniergeist auch gegenüber den Einheimischen stets Respekt wahrte und der jegliche Entdecker-Hybris vermissen liess. «Der Agnostiker Yersin ist ein Liebling der Götter», notiert Deville. 

«Pest & Cholera» steckt voll erstaunlicher Anekdoten über diesen quecksilbrigen Geist, der wohl deshalb vergessen ging, weil er als Wissenschaftler kaum korrekt einzuordnen ist. Dieser Roman gibt den Lesern Einblick ­sowohl ins Reich der Erreger wie der Entdecker. Alexandre Y­ersin ist der Reiseführer, Patrick Deville sein Begleiter und diskreter Lenker. 

Patrick Deville: Pest & Cholera. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Bilgerverlag, Zürich, 2013. 242 Seiten, CHF 32.–

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